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Mathematik & Geometrie
Die Überprüfung und Weiterentwicklung von Montessoris Pädagogik für die zweite Entwicklungsstufe gipfelte in der Veröffentlichung der beiden Bücher Psicoaritmetica und Psicogeometria im Jahr 1934. In dem Buch Psicogeometria (M. Montessori, 1934, Casa Editoral Araluce, Barcelona) beschreibt Montessori sehr deutlich ihre Abkehr von der herkömmlichen Didaktik (auch in der Geometrie, Stichwort: Euklidische Geometrie) - einer Lehre vom Lehren - sowie die Notwendigkeit einer Hinwendung zu einer Lehre des Lernens. Dafür belebt sie einen alten, bereits von Comenius (1592-1670) verwendeten Begriff neu, den der Mathetik (Evolution der Montessori Theorie: Psico-Theorie).
In der auch heute wieder zunehmend aktuelleren curriculumsorientierten Didaktik ist die Vermittlung von Wissen extrem stark vom Lehrenden abhängig. Er bestimmt hauptsächlich Inhalte und Ziele sowie den methodisch-didaktischen Weg, der zur Erreichung der Ziele notwendig erscheint. Diese Art von Unterricht ist direkt auf das Zentrum, den Kern der zu unterrichtenden Person gerichtet. Ihr Ziel ist es, den Verstand des Kindes auf die Ebene der Abstraktion zu führen.
Der Pädagoge glaubt, durch die Vermittlung von einfachen, konkreten hin zu schweren, abstrakten Kombination von Zahlen und Zeichen zur Intelligenz des Kindes vorgedrungen und diese gelenkt zu haben!
Er (der Pädagoge) irrt aber oft und es gelingt ihm nur in Ausnahmefällen. Durch das fehlende Interesse des Kindes ist die angestrebte Abstraktion nach Montessoris Beobachtungen fast immer nur eine erzwungene Antwort eines unter Druck gesetzten Gedächtnisses und keine Erkenntnis im eigentlichen Sinn.
So wird Mathematik, obwohl sie eine der ersten Stufen zu unserer Kultur ist, bei Schwierigkeiten und Versagen zu einem Hindernis, einer Klippe. Für die Entwicklung einer ganzheitlichen Persönlichkeit bedarf es des Spannungsfeldes zwischen einem mathematischen Geist der Ordnung (des Gefundenen) und einem ästhetisch-kreativen Geist für das Entdecken des Zufindenden. (vgl. WINKLER, 2010)

In ihrer Psico-Theorie beschreibt Montessori für die zweite Entwicklungsstufe (6-12 Jahre) drei basale Prinzipien:
  • die sensiblen Perioden,
  • die Entdeckung (entdeckendes Lernen),
  • die periphere Erziehung.
Montessori beschreibt den Selbstaufbau des Kindes als totale Aktivität, die sich auf zwei Ebenen abspielt.
Schaubild Selbstaufbau des Kindes Nur die Peripherie mit ihren immanenten Aktivitäten ist für den Pädagogen beobachtbar und damit zugänglich.
Die durch Interesse befeuerte geistige Aktivität im Zentrum ist nach Montessori aber unentbehrlich für Verstehen, Erkenntnis oder wirkliches Lernen. Dazu bedarf es der Anstrengung. Montessori definiert die Anstrengung als das, was man selbst unter Einsatz eigener Kräfte realisiert, wenn Interesse vorhanden ist. Und nichts wird aufgenommen ohne Interesse. Ansonsten ist das Gedächtnis nur der Lagerplatz eines ungeordneten Wirrwarrs von verstandenen Einzelheiten.
Um das Interesse des Kindes zu erwecken, bedarf es also der Inspiration, damit das Kind eine eigene Wahl trifft. Das Optimum in einem derartigen Lernprozess ist, dass das Kind mit Begeisterung, mit aktivem Interesse in Übereinstimmung mit seinen sensiblen Phasen handelt.
Kinder lernen auf ihre Art durch spontane Auswahl, Wiederholung und gleichzeitig sinnenhafte und motorische Aktivität, welche die sensible und psychische Aktivität begleitet. Das Kind zu zwingen, wider seinen Neigungen unseren Vorstellungen folgend zu lernen, bedeutet ständig in das Zentrum der Persönlichkeit einzudringen.
Das Zentrum soll aber seine Freiheit behalten, um sich gemäß seiner natürlichen Energien (z.B. Horme) zu entwickeln. Es ist nach Montessori also unnötig, es kennen zu lernen. Der Kern der Persönlichkeit muss respektiert werden. Erziehung muss sich demnach an die Peripherie richten. Der Pädagoge sollte versuchen, die Bedürfnisse des Kindes aus seinen peripheren Äußerungen heraus zu interpretieren und sich so auf den Zustand des Kindes einzustellen.
Dann schließt sich der Kreis und wir sind bei der Umkehrung der am Startpunkt genannten Lehre des Lehrens (senderbezogen) hin zu einer Lehre des Lernens, der Mathetik (empfängerbezogen).
Das Wort Mathetik, aus dem griechischen mathein, bedeutet Lernen im Sinne eines Prozesses als auch eines plötzlichen Erkenntnisgewinnes

Mathetik als Lernkunst steht im Gegensatz zur traditionellen Didaktik als Lehrkunst. Sie betont eine menschen- und gehirngerechte Orientierung des Lernens an den Bedürfnissen des Lernenden. Dies wird durch Forschungsergebnisse der modernen Neurowissenschaften gestützt. Mathetik beinhaltet damit das kostruktivistische Verständnis von Lernen als einen aktiven, selbstorganisierten Prozess und beschreibt somit auch das Verhältnis zwischen Lehrperson und Lernendem neu. Die Lehrperson ist nicht Herr des Lernenden sondern Lernberater und helfender Erzieher. Das Verhältnis zwischen beiden ist demnach symmetrisch und herrschaftsfrei, d.h. beide, Schüler und Lehrer, stehen auf einer Ebene.
In der Mathetik lässt sich der Prozess der Entwicklung des abstrakten Denkens wie folgt skizzieren:
Schaubild abstraktes Denken Mit dem Angebot der ersten Entwicklungsmaterialien im ca. 4. Lebensjahr wird mit der Vermittlung eines geometrischen Gefühls begonnen. Das Kind fühlt sich von den geometrischen Aspekten seiner Umgebung angezogen (Geometrie ist überall!). Ziel ist die Entwicklung einer Geisteshaltung, bei der das spontane Bemerken als Resultat einer inneren Sensibilität verstanden wird.
Wir geben also kein Material, um auf deutliche und konkrete Weise zu zeigen, was in gewöhnlichen Schulen auf abstrakte Weise gelehrt wird (Material primär als Hilfsmittel zur Entwicklung und nicht als Mittel zur Wissensvermittlung). Ein Lehrsatz an sich ist für ein Kind nicht interessant, wenn es ihn nicht begreifen oder seinen Zweck erkennen kann!
Die Aufgabe des Pädagogen liegt darin, Material anzubieten (z.B. das metallene Material), das durch die Art der Handhabung und den Vergleich mit- und untereinander geeignet ist, klare Zusammenhänge zu zeigen und zu enthüllen. Ziel ist die Stimulation der inneren geistigen Aktivität. Das Auge sieht und der Geist vermutet. So entsteht die geistige Arbeit, die, wie oft von Außenstehenden beschrieben, im Verhältnis zum Alter des Kindes frühreif oder nicht angemessen erscheint.
Dazu kommt die Fachsprache im notwendigen Umfang, um sich fachsprachlich präzise ausdrücken und Zusammenhänge formulieren zu können. Nur wenn Handeln (als in Kontakt bringen mit den Sinnesorganen durch Hantieren, Falten, Ausschneiden, Zeichnen (peripheres Mittel)) verbunden ist mit Interesse, kommt es zur Stimulation psychischer Energie, die ein gutes Auffassungsvermögen ermöglichen.
Besonderheiten und Zusammenhänge, die lange unbemerkt blieben, fallen plötzlich wie in Offenbarung auf und werfen einen kleinen Lichtstrahl (der Erkenntnis) ins Bewusstsein. Nur durch die Anwesenheit der Dinge und den peripheren Kontakt damit, kann der Verstand die enthaltenen Fakten entdecken.
"Die Hand berührt das Offenkundige und der Geist entdeckt das Geheimnis" (vgl. Montessori, 1934).